Prof. Dr. rer. nat. de Vries

FB Technische Betriebswirtschaft Hagen

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Jürgen Habermas

Zur Verfassung Europas. Ein Essay. (Auszüge)

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011

Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus konnte im Herbst 2008 das Rückgrat des finanzmarktgetriebenen Weltwirtschaftssystems nur noch mit den Garantien von Steuerzahlern vor dem Zusammenbruch gerettet werden. [S. 117]
(For the first time in the history of capitalism, in autumn 2008 the backbone of the financial-market driven world economic system could be rescued from collapse only by the guarantees of taxpayers.)

Inhaltsübersicht

  1. Die Würde des Menschen und die Menschenrechte
  2. Das Habermas’sche Mehrebenensystem einer verfassten Weltgesellschaft
  3. Appendix

1. Die Würde des Menschen und die Menschenrechte

[Die Menschenwürde ist] die moralische Quelle, aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen. [S. 16] Die liberalen Freiheitsrechte, die sich um die Unversehrtheit und Freizügigkeit der Person, um den freien Marktverkehr und die ungehinderte Religionsausübung kristallisieren und der Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre dienen, bilden zusammen mit den demokratischen Teilnahmerechten das Paket der sogenannten klassischen Grundrechte. [...] Die Erfahrungen von Exklusion, Elend und Diskriminierung lehren, dass die klassischen Grundrechte erst dann den gleichen Wert [...] für alle Bürger erhalten, wenn soziale und kulturelle Rechte hinzutreten [, also] Ansprüche auf eine angemessene Teilhabe an Wohlstand und Kultur. [S. 19f]

Mit den beiden Verfassungsrevolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts [ist] eine provokative Spannung in die Gesellschaften der Moderne eingezogen [...]. Mit der historisch vorbildlosen Praxis der Schaffung einer demokratischen Verfassung entsteht ein [...] in die Zeitdimension verschobenes utopisches Gefälle. Einerseits können die Menschenrechte nur in einem partikularen Gemeinwesen, zunächst innerhalb des Nationalstaates, die positive Geltung von Grundrechten erlangen. Andererseits würde sich ihr universalistischer, über alle nationalen Grenzen hinausweisender Geltungsanspruch allein in einem weltweit inklusiven Gemeinwesen einlösen lassen. Eine vernünftige Auflösung fände dieser Widerspruch erst in einer demokratisch verfassten Weltgesellschaft. [S. 31f]

Mit der ersten Menschenrechtserklärung ist ein Standard gesetzt worden, der die Flüchtlinge, die ins Elend Gestürzten, die Ausgeschlossenen, Beleidigten und Erniedrigten inspirieren und ihnen das Bewusstsein geben kann, dass ihr Leiden nicht den Charakter eines Naturschicksals hat. Mit der Positivierung des ersten Menschenrechts ist eine Rechtspflicht zur Realisierung überschießender moralischer Gehalte erzeugt worden, die sich in das Gedächtnis der Gesellschaft eingegraben hat. Die Menschenrechte bilden insofern eine realistische Utopie, als sie [...] das ideale Ziel einer gerechten Gesellschaft in den Institutionen der Verfassungsstaaten selbst verankern. [S. 33]

[Die Pointe der Menschenrechte ist] die Überführung moralischer Gehalte ins Medium des zwingenden Rechts [...]. In dem Maße, wie Ächtung des Krieges faktisch zur Verrechtlichung internationaler Beziehungen führt, wird die naturrechtliche oder religiöse Unterscheidung zwischen „gerechten“ und „ungerechten“ Kriegen zugunsten „legaler“ Kriege [aufgegeben], welche dann die Form weltpolizeilicher Maßnahmen annehmen müssen. [Fußnote S. 35]

[Allerdings] zerstört die heute übliche „gubernative Menschenrechtspolitik“ zunehmend den Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie. [Fußnote S. 34]


2. Das Habermas’sche Mehrebenensystem einer verfassten Weltgesellschaft [S. 32]

[Eine] Verfassung [verkoppelt] Recht und Politik über das Rechtsmedium. [S. 56]

Der Verfassungsstaat macht die Gesellschaftsbürger zu demokratischen Staatsbürgern; er kennt keine „inneren Feinde“ mehr, sondern [...] nur noch Straftäter. [S. 45]

In der gegenwärtigen Krise hört man oft die Frage, warum wir überhaupt an der Europäischen Union [...] festhalten sollten, wo sich doch das ursprüngliche Motiv, Kriege in Europa unmöglich zu machen, erschöpft habe. [...] Aus Sicht einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, die mit Kant weit über den status quo hinaus auf einen künftigen kosmopolitischen Rechtszustand vorausweist, [möchte ich] ein neues überzeugendes Narrativ entwickeln: Die Europäische Union lässt sich als entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft begreifen. [S. 39f]

Die anhaltende politische Fragmentierung in der Welt und in Europa steht im Widerspruch zum systemischen Zusammenwachsen einer multikulturellen Weltgesellschaft und blockiert Fortschritte in der verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse. [S. 44]

In den internationalen Beziehungen hat erst nach dem Scheitern des Völkerbundes und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – sowohl mit der Gründung der UNO wie mit dem Anfang des europäischen Einigungsprozesses – eine Verrechtlichung eingesetzt, die über die zaghaften Versuche einer völkerrechtlichen Einhegung der staatlichen Souveränität [...] hinausgeht. Der Zivilisierungsprozess, der sich in diesen seit dem Ende des Kalten Kriegs beschleunigten Tendenzen fortsetzt, kann unter zwei komplementären Gesichtspunkten beschrieben werden: Unmittelbar richtet sich die Domestikation zwischenstaatlicher Gewalt auf eine Pazifizierung der Staaten; aber mittelbar, nämlich über die Zügelung der anarchischen Machtkonkurrenz und die Förderung der Kooperation zwischen den Staaten, ermöglicht diese Befriedung zugleich den Aufbau neuer supranationaler Handlungsfähigkeiten. Denn nur mit solchen neuen transnationalen Steuerungskapazitäten können sich auch die transnational entfesselten gesellschaftlichen Naturgewalten, das heißt die durch nationale Grenzen ungerührt hindurchgreifenden systemischen Zwänge ([... z.B.] des globalen Bankensektors), zähmen lassen. [S. 46]

[Es] haben sich unter unseren Augen bemerkenswerte Innovationen angebahnt. Zwei dieser Innovationen erklären, wie eine Transnationalisierung der Volkssouveränität in der Gestalt eines demokratischen Bundes von Nationalstaaten möglich ist. Zum einen ordnen sich Nationalstaaten dem supranational gesetzten Recht unter; zum andern teilt sich eine Gesamtheit von Unionsbürgern die verfassungsgebende Gewalt mit einer begrenzten Zahl von „verfassungsgebenden Staaten“, die von ihren Völkern ein Mandat zur Mitwirkung an der Gründung eines supranationalen Gemeinwesens erhalten. [S. 47]

Die Einschränkung der nationalen Souveränität zugunsten einer Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Instanzen [muss] keineswegs um den Preis einer Entmündigung demokratischer Bürger erkauft werden. Dieser Transfer setzt, wenn er nur die demokratischen Verfahren intakt lässt, genau jene Art von Konstitutionalisierung der Staatsgewalt fort, der die Bürger schon innerhalb des Nationalstaates ihre Freiheiten verdanken. Dann dürfen freilich die vom Nationalstaat an supranationale Instanzen abgegebenen oder mit ihnen geteilten Kompetenzen nicht nur in internationalen Vertragsregimes überhaupt verrechtlicht, sie müssen auf demokratische Weise verrechtlicht werden. Im Falle einer Übertragung von Hoheitsrechten schrumpft der Spielraum der staatsbürgerlichen Autonomie nur dann nicht, wenn die Bürger des einen betroffenen Staates in Kooperation mit den Bürgern der übrigen beteiligten Staaten an der supranationalen Rechtsetzung nach einem demokratischen Verfahren beteiligt werden [Habermas'sche starke Bedingung]. [S. 53f]

Daher wird sich das inzwischen entstandene internationale Netzwerk [der EU] nur dann demokratisieren lassen, wenn es sich als möglich erweist, die aus nationalstaatlichen Demokratien bekannten Bestandteile ohne Legitimationseinbuße auf andere Weise als im Nationalstaat zusammenzusetzen. In dieser Hinsicht ist der Test lehrreich, dem sich die Europäische Union derzeit unterziehen muss. Getestet werden nämlich der Wille und die Fähigkeit der Bürger, der politischen Eliten und der Massenmedien, wenigstens in der Eurozone den nächsten Integrationsschritt zu vollziehen – und damit die Zivilisierung der Ausübung politischer Herrschaft einen Schritt voranzubringen. [S. 54f]

[Zur Würdigung der demokratischen Qualität einer supranationalen Organisation] unterscheide ich drei Bausteine, die in jedem demokratischen Gemeinwesen [...] ihre Verkörperung finden müssen:

  • [(Grundrechte)] die Vergemeinschaftung von Rechtspersonen, die sich auf begrenztem Raum zu einer Assoziation freier und gleicher Bürger zusammenschließen, indem sie sich gegenseitig Rechte einräumen, die jedem gleiche private und staatsbürgerliche Autonomie gewährleisten;
  • [(Verteilung politischer Macht)] die Kompetenzverteilung im Rahmen einer Organisation, die mit administrativen Mitteln die kollektive Handlungsfähigkeit der assoziierten Bürger sichert; und
  • [(Meinungs- und Willensbildungsprozesse)] das Integrationsmedium einer staats- oder überstaatsbürgerlichen Solidarität, die für eine gemeinsame politische Willensbildung und damit für die kommunikative Erzeugung demokratischer Macht und die Legitimation der Herrschaftsausübung notwendig ist. [S. 55f]

In der Europäischen Union [vollziehen sich] Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung auf verschiedenen Ebenen. [...] Während im föderal gegliederten Nationalstaat die verfassungsändende Kompetenz in der Regel dem Bund vorbehalten bleibt, hat sich im europäischen Mehrebenensystem ein Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten eingespielt, obwohl die Unionsorgane nicht über eine solche Kompetenz verfügen. [...] Das supranationale Gemeinwesen konstituiert sich mithin als Rechtsgemeinschaft und wahrt die Verbindlichkeit des Unionsrechts auch ohne Deckung durch Gewaltmonopol und Letztentscheidungsbefugnis. [S. 58]

Auch wenn die Konventsverfassung aus dem Jahr 2004 gescheitert ist, legt der geltende Lissabon-Vertrag den Schluss auf eine zwischen Bürgern und Staaten „geteilte“ Souveränität schon deshalb nahe, weil das Parlament bei Änderungen des Verfassungsvertrages (wenngleich auf eingeschränkte Weise) in das Verfahren einbezogen ist und im „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ dem Rat als ein ebenbürtiges Organ gegenübersteht. [S. 66f]

Die Nationalstaaten sind als demokratische Rechtsstaaten nicht nur Akteure auf dem langen historischen Weg zur Zivilisierung des Gewaltkerns politischer Herrschaft, sondern bleibende Errungenschaften. [...] Die Unionsbürger können deshalb ein begründetes Interesse daran haben, dass der jeweils eigene Nationalstaat auch in der Rolle eines Mitgliedstaates weiterhin die bewährte Rolle eines Garanten von Recht und Freiheit spielt. Die Nationalstaaten sind mehr als nur die Verkörperung bewahrenswerter nationaler Kulturen; sie bürgen für ein Niveau an Gerechtigkeit und Freiheit. [S. 72]

Die Vereinten Nationen sollten als eine politisch verfasste Gemeinschaft von Staaten und Bürgern reorganisiert und gleichzeitig auf die Kernfunktionen der Friedenssicherung [d.i. der globalen Durchsetzung des Gewaltverbots] und der globalen Durchsetzung der Menschenrechte beschränkt werden. [...] Das historisch beispiellose Gebilde der EU würde sich in die Umrisse einer politisch verfassten Weltgesellschaft [...] nahtlos einfügen. Ja, diese politische Weltordnung ließe sich ihrerseits als eine Fortsetzung der demokratischen Verrechtlichung des substanziellen Kerns staatlicher Gewalt begreifen. [S. 86]

Wir alle sind von Haus aus mit alltäglichen Situationen vertraut, in denen wir uns – ohne jede Konnotation von Selbstbehauptung – zur Solidarität mit Fremden, mit allem, was Menschenantlitz trägt, verpflichtet fühlen. Nur dieses moralische Universum aller verantwortlich handelnden Personen, Kants „Reich der Zwecke“, ist vollständig inklusiv: Es schließt niemanden aus. Das Unrecht, das an einer beliebigen Person begangen wird, die Verletzung, die irgendeiner Person zugefügt wird, reizt unsere moralische Empfindlichkeit, stachelt uns zu moralischer Empörung oder Hilfeleistung an. [S. 91] [...] Die einschlägigen Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit sowie die negativen Pflichten zur Unterlassung justiziabler Menschheitsverbrechen und Angriffskriege sind im moralischen Kernbestand aller großen Weltreligionen und der von ihnen geprägten Kulturen verankert. [S. 92]

Recht muss überall dort einspringen, wo eine moralische Arbeitsteilung nötig wird, weil individuelle Urteile und Motivationen nicht ausreichen. Interessanterweise kommen aber gerade in den Politikbereichen, auf die sich die Vereinten Nationen beschränken sollen, also mit dem Gewaltverbot und den Menschenrechten, Rechtsnormen einer besonderen Art zur Anwendung – nämlich solche, für deren Begründung moralische Gründe ausreichen. [...] Die Menschenrechte [umschreiben] genau den Teil der universalistischen Moral [...], der ins Medium des zwingenden Rechts übersetzt werden kann. So erklärt sich die eher juristische als politische Natur der Entscheidungen, die im Rahmen der nach unseren Vorstellungen reformierten Vereinten Nationen anfallen würden. Das Weltparlament würde Debatten über Hintergrundbedingungen globaler Gerechtigkeit führen, und der Sicherheitsrat träfe folgenreiche, aber weitgehend justiziable, von Gerichten kontrollierbare Entscheidungen. [S.91f]

Die Legitimationskette könnte ununterbrochen von den Nationalstaaten über regionale Regimes wie die Europäische Union bis zur Ebene der Weltorganisation reichen, wenn wir annehmen dürften,

  • dass die internationale Gemeinschaft über eine auf Wahlen beruhende Repräsentation der Weltbürger zu einer kosmopolitischen Gemeinschaft erweitert wird;
  • dass sich die Kompetenzen der Vereinten Nationen auf die zentralen ordnungssichernden Aufgaben moralischen Gehalts und wesentlich rechtlicher Natur beschränken; und
  • dass der globale, unter anderem digital hergestellte, über poröse nationale Öffentlichkeiten hinausgehende Kommunikationszusammenhang ausreicht, um allen Bevölkerungen die Ausbildung eines begründeten Urteils über den moralischen Kerngehalt der auf UN-Ebene getroffenen Entscheidungen zu ermöglichen. [S.92f]

Der Witz des vorgeschlagenen Designs besteht [...] darin, dass sich der politische Prozess jenseits der Staaten und der Staatenunionen auf zwei verschiedene Politikfelder verteilen und in entsprechende Legitimationszüge verzweigen soll. Demnach fallen die Aufgaben der globalen Sicherheits- und Menschenrechtspolitik in die Kompetenz einer Weltorganisation, die so zusammengesetzt ist, dass der in ihren Politikbereichen verringerte Legitimationsbedarf grosso modo befriedigt werden könnte. Aus diesem hierarchisch aufgebauten Kompetenzgefüge fallen die verteilungsrelevanten Aufgaben der Weltinnenpolitik heraus; sie werden in ein transnationales Verhandlungssystem abgezweigt. [...] Dieser gewissermaßen in die Horizontale abgezweigte politische Prozess soll in den Kontext der verfassten Weltgesellschaft eingebettet bleiben. [... Denn] erstens würden die transnationalen Verhandlungen von denselben Akteuren getragen, die auf der globalen Ebene ihre Streitkräfte für die von ihnen kooperativ mitgestaltete Friedens- und Menschenrechtspolitik zur Verfügung halten und sich insofern auch als Mitglieder der kosmopolitischen Gemeinschaft verstehen müssten. Umso eher würden sich deshalb zweitens die transnationalen Verhandlungen innerhalb des Korridors jener Mindeststandards bewegen, die das Weltparlament im Hinblick auf das von den Menschenrechten vorgezeichnete Niveau der Schutzpflichten laufend anpasst. [S. 94f]

Appendix

A.1. Hat Luhmann doch recht? (Sandra Weiss 2018)

[Die gesellschaftliche Lage im mexikanischen Wahlkampf 2018] entspricht ungefähr der Situation in Kolumbien der 1990er Jahre, wo am Ende Narco-Paramiltärs ein Drittel des Kongresses, hunderte von Gemeinden sowie Richter, den Geheimdienst und Provinzgouvernuere kontrolliert haben. Ihre Drähte reichten sogar bis in den Präsidentenpalast von Álvaro Uribe. Mexikaner hören den Vergleich mit Kolumbien nicht gern. Und ebensowenig gefällt ihnen die Vorstellung, Korruption und Straflosigkeit mithilfe einer internationalen Ermittlerkommission zu bekämpfen, so wie es das Nachbarland Guatemala erfolgreich vorgemacht hat.

Was wären denn ihre Rezepte für mehr Sicherheit und sozialen Frieden? Um das herauszufinden, habe ich die erste Livedebatte der Präsidentschaftskandidaten verfolgt. Da schlug man etwa vor, Diebstahl und Korruption mit Handabhacken zu bestrafen oder, wie der US-Präsident, in den Schulen die Lehrer zu bewaffnen. [...]

Politik als inhaltsleeres Spektakel: Das hielten meine Kommilitoninnen und ich während des Politikstudiums Mitte der 1990er Jahre in Paris noch für ausgeschlossen. Der Neoliberalismus hatte zwar schon damals die wirtschaftswissenschaftliche Dozentenschar am Institut d’études politiques infiziert. Aber als in Soziologie die Sprache auf „Politik als Marke und Ware“ kam, waren wir – unter dem Eindruck der Habermas’schen Theorie vom kommunikativen Handeln emanzipierter Bürger im öffentlichen Raum – fast alle davon überzeugt, dass dies eine Übertreibung war und sich ökonomische Konzepte nur bedingt auf die Politik übertragen lassen. Wir irrten, und Niklas Luhmann mit seiner vernichtenden Kritik an Habermas’ idealisierten Prämissen behielt recht.

[aus: Sandra Weiss: „Brief aus Puebla“, Le monde diplomatique, Juni 2018]

A.2. Die Agonie des Nationalismus (Jürgen Habermas 2018)

Dem antikisierenden Blick auf das immergleiche Auf und Ab der Imperien entgeht das historisch Neue an der heutigen Situation. Die funktional immer dichter zusammenwachsende Weltgesellschaft ist politisch nach wie vor fragmentiert. Diese Entwaffnung der Politik erzeugt ein Gespür für die Schwelle, vor der die Bevölkerungen heute den Atem anhalten und zurückschrecken. Ich meine die Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration, die von den Bürgern verlangt, dass sie, bevor sie ihre Stimme abgeben, auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen übernehmen. [...] Wo ist die Rationalität des Handelns in der heutigen Arena? Historisch betrachtet, ist der fällige Schritt zu einer politisch handlungsfähigen Euro-Union die Fortsetzung eines ähnlichen Lernprozesses, der mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert schon einmal stattgefunden hat. Auch damals ist das über Dorf, Stadt und Region hinausgreifende Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht naturwüchsig entstanden; vielmehr ist es von den tonangebenden Eliten den schon bestehenden funktionalen Zusammenhängen der modernen Flächenstaaten und Volkswirtschaften zielstrebig angepasst worden. Heute werden die nationalen Bevölkerungen von politisch unbeherrschten funktionalen Imperativen eines weltweiten, von unregulierten Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus überwältigt. Darauf kann der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen nicht die richtige Antwort sein.

[aus: Jürgen Habermas: „Sind wir noch gute Europäer?“, Die ZEIT Nr. 28, 5. Juli 2018]